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Autismus – das neue ADHS?

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Dr. Silke Volland und Dipl. Psych. Doris Wittmann

Im Regensburger Kinderzentrum St. Martin werden immer mehr Kinder mit „autismustypischen“ Verhaltensweisen behandelt. Der Anstieg der Diagnose Autismus hat verschiedene Ursachen.

Bei uns, im Regensburger Kinderzentrum St. Martin, werden in den vergangenen  Jahren immer mehr Kinder mit der Frage nach Autismus (ASS) vorgestellt. Das erinnert an die Diskussion um die Diagnose ADHS, also einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Störung. Besonders die medikamentöse Therapie mit Ritalin, Kinder „ruhig zu stellen”, geriet in Verruf. Autismus und ADHS sind Erkrankungen bzw. psychische Störungen, die sich durchaus in einigen Bereichen ähnlich sind und auch in Kombination vorkommen. Wir gehen davon aus, dass fast 60 Prozent aller Menschen mit Autismus auch eine Aufmerksamkeitsstörung haben. Umgekehrt besteht dieser Zusammenhang seltener.

Einer unserer Schwerpunkte in der entwicklungsneurologischen Ambulanz ist die Diagnostik autistischer Störungen. Jede Woche wird mindestens ein Kind mit dieser Frage bei uns vorgestellt. Bei manchen Kindern mit einer verzögerten Sprachentwicklung kristallisiert sich erst im Verlauf eine ASS heraus.

Wir erleben im Moment aber auch mehr Kinder mit „autismustypischen“ Verhaltensweisen, die jedoch andere Ursachen haben. Dazu zählen z. B. psychische Erkrankungen der Eltern, familiäre Überforderung oder Bindungsprobleme. Durch die Corona-Pandemie waren die Entwicklungsbedingungen für viele Kinder ungünstig, Kinder im Alter von 2 bis 3 Jahren haben noch kein Leben vor Corona kennengelernt. Soziales Lernen konnte oft nur zu Hause stattfinden, Kontakte wurden vermieden, die Mimik des Gegenübers wurde durch den Mundschutz verdeckt. Nicht jede Familie konnte ihren Kindern förderlich zur Seite stehen, auch viele Kinder mit guten Bedingungen haben emotional unter der Situation gelitten.

Autistisches Kind mit Therapiehund Sam.

Wir sehen aktuell viele sehr belastete Familien, deren Kinder in sich gekehrt sind, wenig Freude zeigen und viel mit sich beschäftigt sind. Sie gehen kaum mit ihrem Gegenüber in Kontakt. Manche Kinder haben zu Hause wenig Kontaktangebote erlebt. Einige Eltern mit psychischen Erkrankungen oder massiven Sorgen können nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der Kinder reagieren.

Diese Kinder sind dann in der Folge oft sehr zurückhaltend oder auf sich bezogen und haben es mehr oder weniger aufgegeben, ihr Gegenüber in ein Spiel zu integrieren oder ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Sie haben aber keinen Autismus.

Der Anstieg der Diagnose Autismus hat verschiedene Ursachen. Pädagogen und Fachkräfte sind für das Thema sensibilisiert, die Diagnostik hat sich verbessert und die Diagnosekriterien haben sich seit der Erstbeschreibung stark verändert. Insgesamt bleibt der Anteil der Kinder, die wir durch standardisierte Methoden diagnostizieren, gleich, wir führen jedoch immer mehr Testungen durch. Autismus wurde bislang in Formen wie frühkindlicher, Asperger und atypischer Autismus eingeteilt. Davon ist man abgekommen, da die Ausprägung der Symptome und der Verlauf bei jedem einzelnen Menschen unterschiedlich sind. Wir sprechen jetzt von Autismusspektrumsstörung (ASS). Wie sich ein autistischer Mensch entwickeln wird, ist meist schwer vorhersehbar und wird von Faktoren wie der Ausprägung der Symptome, dem Erlernen von Sprache oder der kognitiven Entwicklung beeinflusst.

Eltern beobachten meist schon früh, d. h. oft schon mit 12-18 Monaten, erste Unterschiede zu anderen Kindern. Manche Kinder reagieren nicht auf ihren Namen, sind mit sich selbst „zufrieden”, machen nichts nach oder entdecken das Rollenspiel nicht für sich. Sie nehmen weniger Kontakt auf. Etwas später, also mit 2 bis 3 Jahren, fällt oft die Sprachentwicklung auf. Die „highfunctioning-Autisten“, die man früher auch als Asperger-Autisten bezeichnet hat, entwickeln häufig einen guten Wortschatz, können aber nicht an das Gespräch des Gegenübers anknüpfen und sprechen nur über ihre eigenen Ideen. Manche Kinder lernen erste Worte, dann aber wenig dazu. Sie sprechen nicht nach. Was sie sagen, passt oft nicht zur Situation. Manche machen lange Pausen in ihrer Sprachentwicklung oder sprechen nie. Gemeinsam ist allen, dass sie eigentlich kein Sprachproblem, sondern vielmehr ein Kommunikationsproblem haben. Kommunikation entsteht bereits weit vor der eigentlichen Sprache, indem Kinder den Blickkontakt einsetzen, mit der Hand oder dem Finger zeigen, sich durch Gesten (z. B. Winken) verständlich machen. Diese vorsprachliche Kommunikation setzen autistische Kinder meist nicht ein.

Kinder- und Jugendärztin Dr. Silke Volland (li.) und Psychotherapeutin Doris Wittmann (re.)

Ungewöhnliche Interessen und Bewegungen

Dazu finden sich auch Auffälligkeiten in der Interaktion, das heißt dem Interesse des Kindes an einem Spiel mit dem Gegenüber, diesem etwas zu zeigen, zu bringen, sich auf die Ideen des anderen einzulassen. Viele autistische Kinder haben ungewöhnliche Interessen, das können U-Bahn- Pläne, Automarken o. ä. sein. Darüber haben sie nicht nur viel Wissen, sie können sich davon oft auch schwer lösen. Manche autistischen Menschen führen ungewöhnliche Bewegungen wie das Flattern mit den Armen oder das Drehen von Gegenständen vor den Augen aus. Wir bezeichnen dies als repetitive und stereotype Verhaltensweisen.

Wir wissen nicht sicher, wie ASS entsteht, gehen aber davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen. Autismus kann im Rahmen sogenannter Syndrome vorkommen, das heißt Erkrankungen durch eine Veränderung im Erbgut, seltener durch Stoffwechselerkrankungen. Auch Umweltfaktoren können eine Rolle spielen.

Wir begleiten viele Familien über einen langen Zeitraum. Oft beobachten wir erst einmal den Verlauf, bis wir eine sichere Diagnose stellen können. Nach der Diagnose sind Aufklärung und Information über die Erkrankung ihrer Kinder für die betroffenen Eltern wichtig. Wir beraten, wie die Eltern Problemen im Alltag begegnen und ihre Kinder fördern können. Wir können (wenn es die Pandemie zulässt) einem Teil der Kinder autismusspezifische Therapie oder Kleingruppen und Elterngruppen zur Kommunikationsförderung (TASK) anbieten.