Während der Kita-Schließungen haben wir unseren vierjährigen Sohn nicht in die Notbetreuung gegeben, sondern immer zuhause betreut. Seit Pfingsten geht er wieder in den Kindergarten, aber die ersten Tage waren sehr schwer, weil er absolut nicht dorthin wollte. Inzwischen geht es wieder besser, aber er beklagt sich häufig, dass es ihm dort zu laut sei und er lieber bei Mama oder Papa bleiben möchte. Am Nachmittag ist er oft sehr weinerlich oder schlecht gelaunt und will nichts unternehmen. Am liebsten will er allein mit mir zuhause spielen. Auf den Spielplatz will er höchstens abends, wenn wir fast alleine sind. Ich habe mich mit anderen Eltern über das Phänomen unterhalten und auch sie bemerken teilweise verändertes Verhalten bei ihren Kindern. Die eine Mutter erzähltemir, dass sich ihre Kinder (2 und 6 Jahre alt) förmlich aneinander festklammern, wenn sie in fremder Umgebung sind. Wenn sie sich trennen müssen, gibt es Tränen. Der Große will nicht mal mehr seine Kindergartenfreunde allein besuchen, obwohl er das früher oft gemacht hat. Auch in den Fußballverein geht er nicht mehr gerne. Ein Kollege erzählte, dass seine zweijährige Tochter unterwegs sehr schüchtern ist und wieder „fremdelt“. So versteckt sie sich zum Beispiel auch bei bekannten Personen wie der Nachbarin hinter Mama oder Papa. Beim Einkaufen fängt sie manchmal schon zu weinen an, wenn fremde Menschen sie ansprechen. Zuhause sei sie dafür besonders (heraus-)fordernd und will ständige Aufmerksamkeit. Ich frage mich, ob dies eine normale Reaktion auf die kontaktarmen Phasen ist. Wie können wir unseren Kindern helfen, sich wieder an alltägliche Situationen mit mehreren und/oder fremden Menschen gewöhnen?
1Geben Sie Ihrem Kinder Zeit und Raum!
Ihre Beobachtung der sozialen Zurückhaltung ihres vierjährigen Sohnes nach und infolge der Kita-Schließungen spricht bereits dafür, dass Sie emotionale und verhaltensmäßige Veränderungen bei ihrem Kind feinfühlig wahrnehmen und reflektieren. In dieser Hinsicht hat ihr Junge alles, was er an Basics für eine gesunde Entwicklung braucht: Eltern, die spüren, dass ihr Kind psychisch auf Veränderungen reagiert und sich Gedanken machen, welche unterstützende Haltung es nun braucht. Unbestritten haben die notwendig gewordenen Pandemie-Maßnahmen (Abstand halten, Kontakte reduzieren, Desinfizieren etc.) sich beeinträchtigend auf unser soziales Miteinander ausgewirkt, über alle Generationen hinweg. Kleine Kinder, die zuvor schon das bis dahin selbstverständliche soziale Miteinander in Familie, Freundeskreis und Kitas kennengelernt hatten, erlebten seit dem letzten Frühjahr eine mehr oder weniger tiefgreifende Verunsicherung ihres bis dahin zum Glück Sicherheits-basierten Weltbildes. Plötzlich war ein Zusammensein in Frage gestellt, unterbrochen, gefährlich, gefühlt manchmal sogar lebensgefährlich. Zumindest für ihre älteren Angehörigen. Der Enkel meiner Nachbarin weigerte sich etwa im ersten Lockdown, beim Großelternbesuch das Auto zu verlassen, nachdem seine Lehrerin von der absoluten Gefährdung der Großeltern durch eine Weitergabe des Virus an sie gesprochen hatte. Gemessen am Alter Ihres Sohnes nimmt die „social distancing“-Zeit mittlerweile ein Drittel seines Lebens ein, weshalb es nicht verwundert, dass er trotz Ihrer feinfühligen Begleitung Reaktionen in seinem Sozialverhalten zeigt. Das Gegenüber galt eine geraume Zeit lang als „gefährlich“ oder „gefährdet“. Entweder konnte man im Sozialkontakt also zum Opfer oder zum Täter werden. Zumindest konnte sich das im noch magischen Denken des Kindes so anfühlen. Geben Sie ihrem Sohn die Zeit und den Raum, die er braucht, um sich in seinem Tempo wieder an die anderen annähern zu können. Um selbst wieder zu entdecken, was ihm Spaß macht am Miteinander mit einem anderen Kind. Das darf erstmal vorsichtig gehen, nur mit einem Kind, nur wenig Kontakte: so, wie er das gerade noch für sich managen kann, mit Ihrer Hilfe. Mit der Zeit wird er sich wieder in seinen persönlichen sozialen Bedürfnissen einpendeln. Noch ein paar Worte zur Auswirkung der Pandemie und ihrer Folgemaßnahmen auf die seelische Gesundheit der jungen Generation: spätestens seit dem zweiten Lockdown wurde und wird nun verstärkt wissenschaftlich untersucht, wie sich „Corona“ auf die psychische Entwicklung unserer Kinder auswirkt. Das kommt leider etwas zeitverzögert und ist dringend notwendig, um entsprechende Hilfen und Kompensationsangebote zu etablieren. Alle bisherigen Studienergebnisse verdeutlichen, dass seelische Belastungen (wie Ängste, Zwänge, Depressionen und Essstörungen) bei Kindern und Jugendlichen seit 2020 von früher 20 Prozent auf heute ein Drittel angestiegen sind, und dass häusliche und/oder sexuelle Gewalt in Risikofamilien um mehr als die Hälfte zugenommen haben. Das heißt, dass die Kinder und Jugendlichen, die vor der Pandemie schon in schwierigen Verhältnissen leben mussten, wiederum besonders von ihren Folgen betroffen sind. Für diese Betroffenen müssen nun dringend vielfältige und kreative Hilfsangebote etabliert werden. Ebenso sollte von weiteren Schließungen sozialer Einrichtungen und Schulen unter Einhaltung der gesundheitsnotwendigen Standards Abstand genommen werden.
2Kontakte neu überdenken und definieren
Auch wir beobachten ähnliches Verhalten bei den Kindern in unserer Gruppe und auch ehrlich gesagt bei uns Erwachsenen. Und das ist auch kein Wunder, sagen sogar Fachleute. Für das Phänomen gibt es einen Begriff: Cave-Syndrom. Das englische Wort „cave“ bedeutet Höhle. Die Menschen bleiben also lieber in ihren sicheren Höhlen, statt rauszugehen. Was erst mal nach einer Erkrankung klingt, ist eine vollkommen normale Erscheinung. Der Grund dafür ist eine antrainierte Angst vor dem Virus. Wir haben gelernt, dass Kontakte potentiell gefährlich sind, weil wir uns dabei anstecken könnten bzw. das Coronavirus weiter verbreiten können. Nun sind wir zum Glück gerade in der Phase, dass Lockerungen möglich sind. Doch nicht jedem gelingt die Anpassung im gleichen Tempo. Manche Kinder haben es sich in der „Corona- Höhle“ gemütlich gemacht und genießen die intensive Familienzeit. So wie das Erlernen der Vorsichtsmaßnahmen und der Ängste vor dem Virus ein Prozess war, gilt es auch nach dem Abflauen der Pandemie, nach und nach wieder zu mehr Normalität zurückzufinden. Dies findet bei Kindern nicht verbal, sondern vor allem über Emotionen statt. Diese lassen sich hinter der Maske und ohne Mimik auch nur schwer ablesen bzw. transportieren. Im besten Fall gibt man sich und den Kindern diese Zeit. Stellen sie sich immer wieder den Situationen und erfahren im besten Fall, dass der Spielplatzbesuch mit den Freunden Spaß macht. Vielleicht ist es auch die Gelegenheit, das Maß an Kontakten neu zu überdenken und zu definieren. Wir stellen immer wieder fest, dass es Kindern (und auch uns) gut tut, nach einem 7-Stunden Arbeitstag in die Ruhe der eigenen Höhle zu flüchten. Hören sie auf ihr Bauchgefühl und schauen sie, was ihnen und den Kindern gut tut – und das ist dann meist genau das Richtige.
3Gelegenheiten zu außerfamiliären Erfahrungen schaffen
Kinder bauen nach der Geburt eine Bindungsbeziehung zu den Eltern oder anderen verantwortlichen Bezugspersonen auf, weil sie in den ersten drei Lebensjahren allein nicht überleben könnten. Kinder erfahren im guten Fall im Schutz dieser Beziehungen, dass sie getröstet zu werden, genährt werden, beschützt und auch angeleitet werden. Bindungen sind aber kein Selbstzweck, sondern bereiten das Kind durch die entstehende innere Sicherheit der Bindung auf eine selbständige Erkundung der Welt vor. Ab dem Krabbelalter sind die Kinder deshalb neugierig, entfernen sich auch mal von den Bindungspersonen, untersuchen die Umgebung, probieren vieles aus, ahmen die Eltern, Geschwister und andere Kinder nach. Dafür brauchen sie viele Anregungen und auch Herausforderungen. Wenn diese zu überfordernd sind, das Kind Angst bekommt oder frustriert ist, dann kehrt es zu den Bindungspersonen zurück, um getröstet, ermutigt und begleitet zu werden. So entsteht langsam Selbstwertgefühl, Kompetenz und die Fähigkeit beim Kind, sich selbst zu beruhigen und sich Herausforderungen gewachsen zu fühlen. Die Bindungspersonen sind in den Worten der Bindungstheorie der sichere Hafen bei Bedrohung und die sichere Basis bei Neugier. Damit der wechselseitige Prozess von Erkundung und Beruhigung sich entwickeln kann, braucht es einerseits Orte und Gelegenheiten zur Erkundung und Herausforderung und andererseits Sicherheit gebende feinfühlige und gelassene Eltern. Durch diesen Entwicklungsprozess gewöhnt sich das Kind an Herausforderungen und wird selbständiger. Während die Bindungspersonen in den ersten zwei Lebensjahren noch viel mitspielen und anregen und die Kinder viel Sicherheit brauchen, wird mit zunehmendem Alter die Außenwelt wichtiger und trennt sich der Erkundungsbereich immer mehr vom sicheren und vertrauten Hafen der Familie, in den das Kind nach Hause kommt. Die Coronapandemie hat nun diesen Mechanismus von zwei Seiten aus gründlich durcheinander gewirbelt: Die erwachsenen Bindungspersonen waren einerseits mit den Kindern im Lockdown „eingesperrt“, und sie waren und sind zum Teil selber stärker verunsichert durch Ängste vor einer Ansteckung, durch Stress im beruflichen Umfeld und sie fanden sich in einer schwierigen Doppelrolle wieder, nämlich dass sie das Kind zu Spiel und Erkundung zu Hause hatten und gleichzeitig weniger eine echte Beruhigungsaufgabe hatten, das das Kind ja im vertrauten Umfeld zu Hause war. Und auf der anderen Seite fehlten den Kindern – und auch den Eltern – die Entwicklungsanregungen durch andere Kinder, den Kindergarten und in höherem Alter natürlich die Schule. Kleine Kinder sind aber auch gerne zu Hause und viele haben es lange eher genossen, dass die Eltern nun mehr Zeit hatten, dass es manchmal ruhiger zuging, dass wenig Termindruck und Stress da war und vieles nach dem Rhythmus des Kindes ablief. Denn die außerfamiliäre Umgebung ist nicht immer nur positiv anregend, sondern für manche Kinder auch grenzwertig und anstrengend. Durch Corona fehlte den Kindern aber nun dieses alltägliche Erfahrungs- und Übungsfeld für ihre Entwicklung. Es ist deshalb gut zu verstehen, dass nach dem Lockdown dem vierjährigen Sohn der Kindergarten dann zu laut ist, dass er länger braucht, um sich wieder daran zu gewöhnen, oder dass die Kleinkinder mehr „fremdeln“. Auch größere Kinder können verstärkt Angst bekommen, wenn sie lange geschützt zu Hause waren und erleben, dass nun wieder das Leben im Verein oder in der Fußgängerzone heranbrandet. Die Kinder zögern dann, sich in die inzwischen ungewohnten Situationen hineinzubegeben. Was können Eltern tun? Nun, sie sollten die Kinder wieder zuversichtlich, ruhig, aber entschlossen an die alten Erkundungsbereiche des Kindergartens, des Vereins, der Freunde/innen heranführen und Gelegenheiten zu außerfamiliären Erfahrungen schaffen. Beim Übergang sollten sie aber Verständnis, Trost und Ruhe vermitteln: „Du darfst zeigen, dass dich eine Situation noch überfordert.“ „Ich habe verstanden, dass es für dich (noch) sehr laut ist.“ „Wir gehen es langsam an, dass du dich wieder an Herausforderungen gewöhnst,
aber wir gehen es an.“ Eltern sollten also den Motor der Entwicklung wieder in Gang setzen, ihre Kinder ruhig begleiten, nichts überstürzen, aber sich auch nicht von den Ängsten des Kindes den Blick auf die Gesamtsituation verstellen lassen. Dann sind sie wieder ein sicherer Hafen für die Kinder. Das Meer aber liegt außerhalb der Familie.
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Titelbild gemalt von Klara (10)