Leben, Schulkind

Hilfe – Der Übertritt naht!

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Carl Holtz

Wenn es um den Übertritt des Kindes an eine weiterführende Schule geht, werden Eltern zunehmend hysterisch. Bloß nicht Real- oder gar Mittelschule! Aber mal ehrlich: Was wäre eigentlich so schlimm daran?

In den letzten Jahren ist eine immer mehr zunehmende, panische Angst oder gar eine Hysterie bei Eltern zu beobachten, wenn es um den Übertritt ihrer Kinder an eine weiterführende Schule geht. Diese beginnt oft schon zu Beginn (!) der 3. (!) Grundschulklasse, wenn das Kind (noch) nicht so „funktioniert“, wie Eltern das gerne sehen würden. Aber bitte, was kann sich in einem oder zwei Jahren noch alles ändern, es ist wirklich eine Zeit rasender Entwicklung. Da kann man nur raten: Behaltet ruhig Blut! Interessanterweise ist die beschriebene Angst umso größer, je gebildeter die Eltern sind. Diese Eltern haben nie eine Mittel- oder Realschule besucht und haben echte Horrorvorstellungen davon, wie es an solchen Schulen zugeht. Dazu darf einmal klar gesagt werden, dass die Lehrer:innen an diesen Schulen auch akademisch gebildet sind und ihre ganze Kompetenz einbringen
und dass die Schüler:innen dieser Schultypen weiß Gott nicht lauter Monster sind! Oder dass an diesen Schulen das absolute Bildungschaos herrscht. Trotzdem höre ich – obwohl nie ausgesprochen – den Gedanken: „Aber mein Kind ist doch nicht so minderbegabt, dass es eine solche Schule besuchen müsste!“, oder „was würden denn die Kolleginnen und Kollegen, die Freundinnen und Freunde, die Nachbarinnen und Nachbarn sagen – da blamieren wir uns ja bis zum Tode!“

„Nichts ist mehr stabil, alles ist im Fluss – es fehlt einfach das Geländer.“

Dabei geht es doch um das Kind mit all seinen individuellen Neigungen, Bedürfnissen, Fähigkeiten, Stärken (und Schwächen), nicht um den Status der Eltern und schon gar nicht um die Meinung Außenstehender. Kinder sind eben keine zu klein geratenen Erwachsenen, keine Marionetten und auch keine Roboter, sondern in der Entwicklung befindliche Wesen mit eigener Wahrnehmungs- und Gefühlswelt, welcher man Rechnung tragen muss. Sie werden heute schon im Mutterleib intensiv mit Ultraschall beschossen, werden dann in eine Welt voller Reize losgelassen und müssen mit Lärm, täglich zunehmender Funkbelastung, Existenzsorgen der Eltern, Dauer-TV, Umweltverschmutzung aller Art, Lebensmittelvergiftung, chemischen Medikamenten, dem allgegenwärtigen MP-3-Gedröhner, Internet-PC, Sprachen- und Kulturgewirr, religiöser Entfremdung, zerbrechenden Familien, gestörten Sozialkontakten, Statussymbolen, sexualisierenden Eindrücken, Katastrophenmeldungen, Allergenen und Vielem mehr zurechtkommen.

Müssen wir uns wirklich wundern, wenn Kinder heute in zunehmendem Maße mit Entwicklungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, psychosomatischen Störungen, mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, Konzentrationsproblemen und AD(H)S antworten? Oder wenn sie trotz ihres Alters einfach noch nicht so weit sind, wie das schablonierte Idealkind? Eltern sollten das vor allem nicht persönlich nehmen, sondern mit Gelassenheit reagieren, sich gleichzeitig aber auch die Frage erlauben, wie der Reizüberflutung Abhilfe geschaffen werden kann.

Fragt euch doch einmal: Was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn ein Kind erst mit 7 in die Schule kommt und ihm dafür noch ein Jahr Kindheit bleibt? Ja, es wird ein Jahr später fertig, aber es ist dann auch um ein Jahr reifer, ausgeglichener und erfahrener. Möglicherweise wäre der zu frühe Schuleintritt und das frühe Schuljahr eine Quälerei gewesen, so hatte das Kind Gelegenheit, Entwicklungsverzögerungen aufzuholen und steht jetzt „über den Dingen“.

Was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn ein Kind mal ein Jahr wiederholt? War es vorher der oder die Kleine, gehört es jetzt zu den älteren Kindern der Klasse und hat einen ganz anderen Status. Was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn ein Kind die Mittel- oder Realschule besucht und dort seine Mittlere Reife bzw. den Realschulabschluss macht? Es lernt an diesen Schulen wahnsinnig viel fürs Leben, kann ohne Frust mit guten Noten abschließen, was allemal besser ist, als ein grottenschlechtes Abi hinzulegen. In der Mittel- oder Realschule hat es „Oberwasser“. Nach diesen Schulen stehen ihm/ihr alle Türen des 2. Bildungsweges offen: Eine Berufsausbildung, welche zusammen mit einer folgenden Berufsausbildung zum Studium berechtigt. Wer einen Beruf „von der Pike auf“ gelernt hat, kann seine Lebens- und Berufserfahrung in die Hochschul- und Wirtschaftwelt hineintragen. Er/sie tut sich damit um ein Wesentliches leichter. Oder sie/er belässt es auf der nichtakademischen Ebene und legt eine Meisterprüfung mit der Möglichkeit einer Betriebsgründung ab. (Menschsein beginnt ja nicht erst mit dem Abitur. Und das Abitur macht auch keinen besseren Menschen).

"Wer sein Kind um jeden Preis und gegen dessen Veranlagung ins und durchs Gymnasium peitscht, begeht Kindesmisshandlung."

Was ist denn wirklich so schlimm daran, wenn ein Kind erst mit Beginn der 6. Klasse ins Gymnasium übertritt? In dieser Zeit konnte viel geschehen und manche Entwicklungsverzögerung abgebaut werden. Da schadet es auch nicht, die 5. Jahrgangsstufe zu wiederholen, um den richtigen Anschluss zu finden. Wer sein Kind um jeden Preis und gegen dessen Veranlagung ins und durchs Gymnasium peitscht, begeht (sicher nicht rechtlich), aber nach meinen Wertvorstellungen (mit Verlaub gesagt) Kindesmisshandlung.

In 33-jähriger Berufsschultätigkeit hatte ich selten Freude an „abgebrochenen“ GymnasialschülerInnen, welche entweder mit dieser Schule schlichtweg überfordert oder einfach nicht leistungsbereit waren. Die hatten ihren Frust fürs Leben weg und die Leistungsbereitschaft ist mit dem Eintritt in die Berufsausbildung auch nicht gestiegen. Viel Freude hatte ich hingegen an „guten“ HS-, MS- oder RS-SchülerInnen, die in ihren bisherigen Schulen Erfolgserlebnisse hatten und mit genau diesen Voraussetzungen ins Berufsleben eingetreten sind. Viele von Ihnen treffe ich heute wieder als Ingenieurinnen und Ingenieure, als Technikerinnen und Techniker, als Meisterinnen und Meister oder als FacharbeiterInnen und GesellInnen, die es in ihrem Beruf und im Leben zu etwas gebracht haben.