Institutionen und Organisationen, Kleinkind, Leben, Tipps für Erzieher:innen

Inklusion im Kinderhaus: "Ich sehe, was Du brauchst"

von Daniel Reger und Verena Riehl

Im Integrativen Städtischen Kinderhaus Dr.-Gessler-Straße wird Inklusion aktiv gelebt: 105 Kinder, darunter acht mit besonderen Bedürfnissen, lernen und wachsen gemeinsam. Unter der Leitung von Michaela Schmitz setzt die Einrichtung auf ein bedürfnisorientiertes Konzept, das auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes eingeht. Von inklusiven Hilfsmitteln wie Tablets bis zu innovativen Raumstrukturen – das Kinderhaus zeigt, wie vielfältige Pädagogik im Alltag funktioniert.

Im Städtischen Kinderhaus Dr.-Gessler-Straße werden Inklusion und Vielfalt jeden Tag gelebt. 105 Kinder im Alter von 1 bis 12 Jahren lernen und wachsen hier gemeinsam, acht davon mit besonderen Bedürfnissen. Einrichtungsleiterin Michaela Schmitz führt durch das 25 Jahre alte Haus, das immer noch offen und modern wirkt. Vor vier Jahren hat sie die Leitung übernommen und auf ein bedürfnisorientiertes pädagogisches Konzept umgestellt. Inklusion heißt für sie, den Fokus konsequent auf das einzelne Kind zu richten und was es gerade braucht.

„Wenn die Bedürfnisse des Kindes erfüllt sind, geht es ihr oder ihm gut und dann kann das Kind lernen und sich entfalten“, begründet Schmitz den Ansatz, der viele Anleihen aus der Montessori-Pädagogik und reformpädagogischen Konzepten enthält. Die pädagogischen Fachkräfte verstehen sich als Lernbegleiter:innen für die Kinder, geben Impulse zum selbstbestimmten Lernen und helfen bei Problemen.

Jedes Kind erhält von Anfang an die Hilfestellungen, die es braucht, um sich im Kinderhaus wohlzufühlen und wie alle anderen mitmachen zu können. Für ein Kind ist das vielleicht ein kleiner Wagen mit einer Vorauswahl von Spielzeugen, um nicht von der Masse an verfügbaren Materialien überwältigt zu werden. Kinder, die (noch) nicht sprechen können, können sich über Symbole auf einem Tablet mitteilen. „Das System passt sich dem Kind an und nicht das Kind an das System“, erklärt Schmitz. Von vielen Hilfsmitteln profitieren alle Kinder, auch die Kinder ohne pädagogischen Förderbedarf. So arbeitet das Kinderhaus-Team viel mit sogenannten Metacom-Symbolen: Einfachen und für alle Altersgruppen verständlichen Symbolen, mit denen zum Beispiel der Tagesablauf illustriert und strukturiert wird oder die Kinder selbstständig Alternativen auswählen können. So können alle Kinder wählen, ob und wo sie nach dem Essen schlafen oder sich ausruhen wollen. Einen verpflichtenden Mittagsschlaf gibt es nicht.

Individuelle Unterstützung durch innovative Hilfsmittel

Das Kinderhaus hat ein teiloffenes Konzept mit Stammgruppenzugehörigkeit. Nach dem Morgenkreis bzw. einer Inforunde in den Stammgruppen, können die Kinder selbst entscheiden, in welchen Bereich des Kinderhauses sie gehen und welche Angebote sie wahrnehmen. Grundsätzlich können die Kinder aller Altersgruppen von Anfang an alle Bereiche nach ihrem Entwicklungsstand nutzen. Simple Zeichen und Strukturen helfen bei der Regulation. So regelt zum Beispiel ein simples Zeichen den Zutritt zu den Räumen: Steht das Kuscheltier-Lama vor der Tür, heißt das „Komm herein“, steht kein Lama vor der Tür ist der Raum belegt oder gerade nicht zugänglich. Verschluckbare Kleinteile oder Scheren werden im Werkraum nicht vor den Kleinen weggesperrt, sondern so gelagert, dass ältere Kinder sie allein erreichen können, Krippenkinder jedoch um die Hilfe und damit Aufmerksamkeit einer Fachkraft bitten müssen, damit sie sie gefahrlos ausprobieren und benutzen können. Möchte ein Kind bei einem Angebot nur zusehen und nicht einbezogen werden, geht es auf den Beobachterstuhl, von dessen leicht erhöhter Position aus es den Überblick über das Geschehen hat.

Erfolgsfaktoren für Inklusion

„Ich schaue auf dich und sehe, was du brauchst“ - Diesen Grundsatz haben alle verinnerlicht. Ganz selbstverständlich helfen die Älteren den jüngeren Kindern, Kinder ohne Behinderung helfen denen mit Behinderung. Durch die Interaktion miteinander erhalten beide Seiten wertvolle Anregungen, üben Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft. Dadurch profitieren alle und lernen von Anfang an, dass Vielfalt keine Bürde, sondern eine Bereicherung für die Gesellschaft ist.

Bedürfnisorientiert heißt auch auf die Bedürfnisse und Grenzen der Erziehenden zu achten. Sofern es die Personaldecke zulässt, teilen sich die Fachkräfte am Vortag selbst den Räumen zu, die sie betreuen. Dabei können sie nach ihren Stärken und Neigungen entscheiden. Schmitz betont, wie wichtig dies für die Motivation ist: „Wenn ich etwas gerne mache, dann habe ich Spaß bei der Arbeit. Das merken die Kinder sofort und sind mit Feuereifer dabei.“ Wenn doch einmal wegen Personalmangels Räume geschlossen werden müssen, dann erfolgt die Schließung in einer Reihenfolge, über die die Kinder abgestimmt haben.

„Ich schaue auf dich und sehe, was du brauchst."

Damit Inklusion in der Kinderbetreuung funktioniert sind laut Michaela Schmitz mehrere Dinge wesentlich: Erstens, die räumlichen Voraussetzungen, zweitens hochwertiges Material und Hilfsmittel und drittens, genügend und im Bereich Inklusion besonders qualifiziertes Personal sowie die Begleitung durch Fachdienste und therapeutische Fachkräfte. Eine Herausforderung dabei: Für einen sogenannten „I-Platz“ (Integrationsplatz) und daran gebundene zusätzliche Personalressourcen und Unterstützung durch Fachdienste und Integrationsfachkräfte ist eine einschlägige ärztliche Diagnose notwendig. Besonders im Kleinkindalter kann es jedoch schwierig sein, beispielsweise Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS korrekt zu diagnostizieren. Von der Politik wünscht sich Schmitz weniger starre Vorgaben, sondern mehr Augenmerk auf das, was die Einrichtung konkret für die erfolgreiche Arbeit braucht und Freiheiten in der Umsetzung.

Ein Schlüssel für erfolgreiche Inklusion ist auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern, welche die Expert:innen für ihre Kinder sind. Neben jährlichen Entwicklungsgesprächen findet für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen mindestens einmal im Jahr zusätzlich ein runder Tisch zusammen mit den Eltern, den Kinderhaus-Fachkräften, dem Fachdienst und den therapeutischen Kräften statt, um gemeinsam einen ganzheitlichen Blick auf das Kind und was es für seine Entwicklung benötigt, zu werfen.

„Wenn die räumlichen Voraussetzungen stimmen und die Menschen in der Einrichtung eine offene Haltung und das nötige Handwerkszeug haben, dann ist Inklusion kein Hexenwerk“, fasst Schmitz zusammen. „Es ist wunderbar zu sehen, wie sich hier jedes Mädchen und jeder Junge entwickelt, egal ob mit Behinderung oder ohne.“