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Leseprobe: Wolfsgrund – eine Familiensaga von Gerda Stauner

Gerda Stauner

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Ein einsamer Wolf. Ein verlassenes Dorf. Zwei Menschen am Scheideweg. Darum geht es im neusten Werk der Regensburger Autorin. Hier könnt ihr ein wenig hineinschmökern.

DIE GESCHICHTE
Der Journalist Melchior Beerbauer steht vor einem Scherbenhaufen. Er ringt mit der Frage, ob er das Geheimnis um seinen unehelichen Sohn lüften soll, denn damit würde er seinen besten Freund verlieren. Zeitgleich beginnt er mit der Recherche über die ungeheuerliche Enteignung von fast fünftausend Menschen zugunsten eines Truppenübungsplatzes. Ein einsamer Wolf, der immer wieder auf dem naturgeschützten Gelände gesichtet wird, weckt sein Interesse. Das wilde Tier, mit dessen Schicksal sich der heimatlose Melchior seltsam verbunden fühlt, deckt verschüttete Sehnsüchte in ihm auf.

LESEPROBE
„Hey, Melchior. Wie geht’s dir?“ Unwillkürlich blickt der Redakteur auf und sieht Ellas strahlendes Gesicht vor sich. Das unvermutete Zusammentreffen und ihre zugewandte Art verunsichern ihn und er räuspert sich, um Zeit zu gewinnen. Das Telefongespräch fällt ihm wieder ein und er fühlt sich unwohl in ihrer Gegenwart. Sie scheint sich daran nicht zu stören, macht einen Schritt auf ihn zu, umfängt ihn und haucht ihm links und rechts einen Begrüßungskuss auf die Wangen. Melchior lässt es geschehen, befreit sich aber schnell aus ihrer Umarmung, indem er zurückweicht und sie von oben bis unten mustert. Um seine Unsicherheit zu überspielen, redet er ohne nachzudenken los.

„Ella. Du wirst immer hübscher und jünger. Wie machst du das nur?“ Das Kompliment überrascht ihn selbst. So offen hat er seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Aber es stimmt. Die Frau seines Freundes wirkt um Jahre jünger als er sich fühlt. Ihr leicht gebräunter Teint, die Sommersprossen und die kleinen Lachfältchen um die Augen verleihen ihr ein mädchenhaftes Aussehen. „Danke! Als ich dich gerade auf mich zukommen sah, habe ich dich im ersten Moment gar nicht erkannt. Du machst einen zufriedenen, entspannten Eindruck“, erwidert Ella und lacht, als ihr der Fauxpas bewusst wird. Melchior fühlt sich für einen kurzen Moment unangenehm berührt. Er könnte das Gespräch an dieser Stelle beenden und weggehen, davonlaufen. Aber dann erinnert er sich wieder an das Telefongespräch und Ellas empathische Art, sich nach seinem Wohlbe- finden zu erkundigen. Damals hatte er es sich versagt, ihr ehrlich zu antworten und sich auf ein Gespräch einzulassen.

„Ich habe noch ein wenig Zeit. Wollen wir uns nicht auf die Bank da vorne setzen?“ Ella runzelt die Stirn, nickt dann und beide gehen stumm die wenigen Meter nebeneinander her. Melchior wischt mit einem Taschentuch Blätter und Staub von der Sitzfläche und mit einem knappen Meter Abstand zueinander nehmen sie schließlich Platz. „Und wann habe ich mich deiner Meinung nach verändert?“, knüpft er an das Gespräch an. „Das kann ich gar nicht so genau sagen. Es muss wohl um die Zeit gewesen sein, als wir uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben.“ Nun blickt Ella verlegen zu Boden und zeichnet mit ihrer Schuhspitze kleine Muster auf den mit Blüten besprenkelten Boden.

„Ich meine, dass Kinder ihren Eltern nichts schulden. Sie hat niemand gefragt, ob sie Kinder werden wollen.“

„Ich habe mich damals sehr ausgeschlossen gefühlt. Ich konnte nicht verstehen, wie du mit einer Lüge leben kannst.“ „An meiner Einstellung dazu hat sich über die Jahre nichts geändert. Franzi ist und bleibt der Mann, mit dem ich leben und eine Familie haben will. Auch wenn dich das kränken mag, ich kann mir keinen besseren Vater als ihn vorstellen. Und glaub mir, ich habe lange gebraucht bis ich begriffen habe, dass es bei einer Familie nicht unbedingt auf die Gene ankommt. Sollte Caspar irgendwann auf die Idee kommen, dass wir als Eltern versagt haben, und er sich deshalb von uns abwenden will, dann ist das eben so. Nur weil Franzi und ich auf seiner Geburtsurkunde stehen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns nicht um ihn bemühen müssen.“ Das bringt Melchior endgültig aus dem Konzept. Er kennt Familie nur als eine Art Zwangsgemeinschaft, in der das Wohl des einzelnen immer dem Wohl der Gemeinschaft untergeordnet wird. Die geschmiedeten Bande halten entweder für immer oder werden gewaltsam durchbrochen. Eine Alternative dazu kannte er bisher nicht. „Wie meinst du das?“ „Ich meine, dass Kinder ihren Eltern nichts schulden. Sie hat niemand gefragt, ob sie Kinder werden wollen. Eltern können das in der Regel entscheiden. Sollten sich Kinder aus irgendeinem Grund von ihren Eltern schlecht behandelt fühlen, dann ist es durchaus ihr Recht, diese Verbindung zu trennen. Ich muss mir die Freundschaft zu meinem Kind verdienen, so wie ich mir die Freundschaft zu meinem Mann oder zur dir verdienen muss. Wenn ich mich mies aufführe, dann hast du das Recht zu gehen. Wieso sollten Kinder dieses Recht ihren Erzeugern gegenüber nicht auch haben?“

„Meinst du nicht, Caspar würde es dir übel nehmen, wenn er wüsste, wer sein richtiger Vater ist?“, entgegnet Melchior. Aber schon im gleichen Moment bereut er seine Frage. Er will Ella nicht provozieren. „Er weiß es. Ich habe es ihm gesagt, als er volljährig wurde. Bisher hatte er kein Problem damit. Und er hat sich dagegen entschieden, es Franzi zu sagen.“ Nun ist Melchior sprachlos. Er versucht sich an den 18. Geburtstag seines Patenkindes zu erinnern. Hat sich der Junge damals ihm gegenüber anders verhalten? Gab es ein Zeichen, das ihm zeigen sollte, dass er Bescheid wusste? „Caspar kennt meine Einstellung zum Thema Familie und hat nach anfänglichem Zögern meine Entscheidung akzeptiert. Er weiß, dass es für seinen Vater – für Franzi – eine Katastrophe wäre, wenn herauskäme, dass er nicht sein genetischer Vater ist.“

Die Autorin Gerda Stauner

„Wie kann das funktionieren? Ich meine, wie könnt ihr als Familie zusammenleben und dabei so unterschiedlich damit umgehen?“ „Du, Franzi und ich. Wir sind Nachkriegskinder. Wir haben quasi mit der Muttermilch den ganzen Mist von der deutschen Mutter und ihrem ersten Kind aufgesogen, der ja bis in die achtziger Jahre von Johanna Harrer in ihren Erziehungsratgebern gepredigt wurde. Dass es sich dabei um die ideologischen Verirrungen einer ehemaligen Nazianhängerin handelte, haben viele vergessen oder verdrängt. Wir sind wohl alle mehr oder weniger durch diesen verqueren Erziehungsstil traumatisiert. Das Kind muss einsehen, dass schreien zwecklos ist, es muss parieren, anständig und hart werden. So bin ich aufgewachsen und habe jahrelang darunter gelitten. Franzi erging es ähnlich, aber er kompensiert das Trauma auf seine Weise. Ich musste es aufarbeiten, sonst hätte es mich zerstört. Dadurch hat sich meine Einstellung zur Familie grundlegend geändert.“

Ella macht eine Pause und schaut Melchior einige Sekunden lang einfach an. Sie wirkt auf ihn, als ob sie ausloten will, wie viel Wahrheit er verträgt. „Für Franzi sind Caspar und ich ein sicherer Hafen geworden, in dem er sich aufgehoben und angenommen fühlt. Er hat sich nie mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt, hat sich stattdessen eine eigene Familie aufgebaut und mit seinen Eltern gebrochen. Trotzdem oder genau aus diesem Grund ist die sogenannte Blutsverwandtschaft sehr wichtig für ihn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Wahrheit über den leiblichen Vater seines Sohnes nicht verkraften würde.“

„Wieso erzählst du mir das jetzt? Nach so vielen Jahren?“ „Weil du so anders auf mich wirkst. Nicht mehr so verschlossen und verbissen wie sonst. Keine Ahnung, es ist nur ein Gefühl. Vielleicht verändert sich in deinem Leben gerade etwas und es wird für dich wichtig, dich mit deiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich will dich nicht daran hindern. Aber bevor du mit Franzi darüber sprichst, bitte ich dich, dir zuerst anzuhören, was Caspar dazu zu sagen hat. Er ist meiner Meinung nach derjenige, dessen Wünsche wir respektieren sollten. Dabei spielt es weniger eine Rolle, was ich möchte.“ Und etwas leiser setzt sie hinzu: „Oder was du möchtest.“

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