Die Auswirkungen der Coronakrise auf Kinder und Jugendliche scheinen besonders heftig. Wir haben mit Dr. Hermann Scheuerer-Englisch von der Beratungsstelle der KJF Regensburg gesprochen, welche Ängste und Probleme Familien gerade plagen und warum es so wichtig ist, dass Eltern jetzt die Ruhe bewahren.
Man liest immer wieder, dass die Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche besonders hoch sind. Stimmt das so?
DR: HERMANN SCHEUERER-ENGLISCH: Ja. Kinder sind immer das schwächste Glied in der Gesellschaft. Sind die Eltern durch coronabedingte Sorgen belastet, zum Beispiel beim Einkommen, durch beengte Wohnverhältnisse oder durch Überforderung mit der Begleitung bei den schulischen Aufgaben, dann nehmen die familiären Konflikte zu, dann leiden Kinder besonders darunter. Sie leiden aber auch direkt durch den Wegfall ihrer normalen Entwicklungsbedingungen in KiTas und Schulen, wo sie die notwendigen Entwicklungsaufgaben außerhalb der Familie meistern sollen, vor allem eigene Kompetenzen aufbauen und Lernen, selbständig werden, Freundschaften aufbauen, und die Freizeit mit Gleichaltrigen gestalten.
Wie haben sich die Beratungsanfragen seit der Corona-Krise verändert?
Zunächst sind alle Familien in den Shutdown gegangen, das heißt die Neuanmeldungen sind im April und Mai auf 20 Prozent des normalen Niveaus zurückgegangen. Das ist gut zu verstehen, denn alle Familien waren mit der Anpassung an die neue Situation beschäftigt. Für viele Probleme der Kinder, die sich auf den Schul- oder den Kindergartenbereich bezogen haben, zum Beispiel Ängste oder Konflikte mit Gleichaltrigen oder im Leistungsbereich, gab es plötzlich keine „Bühne“ mehr. In diesen Fällen kam es sogar zu einer Entspannung. Ebenso in Familien, die unter einem hohen Termindruck litten und es genossen, jetzt mehr Zeit zu haben. Die Familien, die bereits vor der Krise in der Beratung waren, bekamen je nach Bedarf intensive Begleitung, durch Telefon, Mail oder Videoberatung. Anmeldungen gab es vor allem von Familien, in denen sich die Eltern getrennt hatten. Hier waren die Themen Besuchskontakte, Kontaktabbruch zwischen Elternteilen und Kindern und die Kommunikation der Eltern. Inzwischen haben wir wieder das normale Niveau an Anmeldungen und nun werden die Langzeitfolgen des ersten Shutdowns sichtbar: überstarke Ängste von Kindern, aufgestauter Ärger und verschärfte schwierige Konfliktmuster in den Familien, gravierende Lernlücken und Leistungsabfall der Kinder und die Auseinandersetzungen wegen der starken Nutzung der digitalen Medien der Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Monaten. Auch die Reaktionen auf die lange Dauer der Krise werden nun sichtbar: Ängste vor dem Schulbeginn, Sorgen wegen Ansteckungsrisiken, der langdauernde Verlust von Nähe und Körperkontakt zu Verwandten und engen Freunden führen zu nervöser Anspannung und Konflikten. Familien wurden durch die Schließungen von Schulen und Kitas stark gefordert und auch heute wissen wir nicht, wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Viele Eltern sind durch die Vereinbarung von Kinderbetreuung und Arbeiten, gesundheitliche oder wirtschaftliche Sorgen und die fortlaufende Ungewissheit an ihre Belastungsgrenze gekommen.
Eltern sollten offen bleiben für alle Fragen und Sorgen, die sich Kinder machen, aber ruhig darüber reden, und Ängste nicht vorschnell wegargumentieren oder verstärken.
Was raten Sie diesen Familien, um Konflikte zu vermeiden?
Eltern sollten sich immer wieder bewusst machen, dass es sich bei Corona immer noch um eine Krise, einen Ausnahmezustand, handelt. Das bedeutet, dass sie als Erwachsene deshalb gegenüber den Kindern die Aufgabe haben, selber Ruhe zu bewahren, die Unsicherheiten auszuhalten, Kindern die Möglichkeit zu geben, dass sie ihre Gefühle äußern dürfen, und Zuversicht dabei zu vermitteln, dass alle in der Gesellschaft gemeinsam „auf Sicht fahren“. Eltern sollten sich ihre Aufgaben möglichst gut aufteilen, und erneut bei Quarantänesituationen eine gute Tagesstruktur einführen. Alleinerziehende sollten selbstbewusst Hilfen durch Kindergarten und Schule einfordern. Es hilft auch, während der Krise die Leistungserwartungen weiterhin anzupassen, nicht zu viel von sich, den Kindern und den Lehrkräften zu erwarten, und versuchen, ins Gespräch zu gehen, um Probleme gemeinsam zu lösen. Die Einrichtungen und Fachleute, die mit den Kindern arbeiten, haben nun aber anders als zu Beginn der Krise die Verantwortung, fortdauernd Ideen für neue Situationen zu entwickeln und eingefahrene Wege zu verlassen, um Familien möglichst zu entlasten.
Wie können Eltern ihre Kinder altersgemäß über das große Thema “Corona” informieren und Ängsten der Kinder begegnen?
Eltern sollten offen bleiben für alle Fragen und Sorgen, die sich Kinder machen, aber ruhig darüber reden, und Ängste nicht vorschnell wegargumentieren oder verstärken, sondern wahrnehmen und Verständnis äußern. Inzwischen gibt es für Kinder unter zehn Jahren interessante und gut gemachte Materialien, um mit Kindern über das Thema zu sprechen. Auf unserer Homepage www.beratungsstelle-regensburg.de finden Sie vielfältige Hinweise, Downloads und Links zu Materialien. Es gibt auch die sehr gute Seite für Jugendliche der LMU München. Wichtig ist es auch zu betonen, dass unser Körper und unser Immunsystem sich gegen das Virus wehren können, und dass aber die AHA-Hygieneregeln sinnvoll sind. Diese werden in der KiTa und Schule auch ausführlich erklärt. Gut ist es auch zu erzählen, dass Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt an Impfstoffen und Behandlungsmöglichkeiten arbeiten. Dadurch wird auch vermittelt, dass man etwas tun kann und der Situation nicht einfach ausgeliefert ist.
Wieviel der eigenen durch Corona bedingten Ängste und Sorgen kann man seinen Kindern zumuten? Und woher kann man als Eltern trotz der krisenhaften Situation Zuversicht entwickeln?
Corona wirkt wie ein Brennglas und fordert uns auf, eigenen Haltungen zu überdenken: Wie gehen wir nicht nur mit den coronabedingten Bedrohungen um, wie mit Stress oder sogar Dauerstress? Reagieren wir besonnen oder lassen unseren Gefühlen freien Lauf? Könne wir für jeden belastenden Gedanken einen tröstlichen oder ermunternden formulieren? Können wir kleine, positive Momente bei uns, den Kindern und in der Familie erleben? Benennen wir sie. Grundsätzlich sollten die Kinder bei uns als Erwachsenen Halt erleben, und ihre eigenen Gefühle ausdrücken können. Das wird umso schwieriger, je stärker unser Gefühle im Vordergrund sind. Wir sollten deshalb unsere Gefühle zwar nicht verdrängen, aber immer wieder auf der Erwachsenenebene klären und offen für die Kinder bleiben. Die Vorstellung, dass unsere Kinder uns gerade jetzt als Vorbild und Halt brauchen, kann uns vielleicht etwas dabei helfen. Auch das Gespräch mit Partner:in oder Freund:innen ist sehr wichtig. Und sich kleine Auszeiten nehmen, spazieren gehen, Sonne tanken etc.
Großeltern sind im Kleinkindalter sehr wichtig, hier erleben viele Kinder einen großen Verlust, den sie sich auch noch nicht erklären können.
Ist die Corona-Krise für Kleinkinder überhaupt relevant und was brauchen sie, um die Geschehnisse gut verarbeiten zu können?
Babys und Kleinkinder bis zum dritten Lebensjahr sind in der Regel aufgehoben in der Welt der Bindungsbeziehung. Corona verstehen sie noch nicht und sind daher nur von dem beeinflusst, wie die Erwachsenen den Alltag organisieren, und wie es ihnen geht. Natürlich fehlten bei den Krippenschließungen gerade den Kindern ab dem 2. Lebensjahr Anregungen von anderen Kindern, viele Kinder vermissten aber die Krippe erst mal gar nicht, sondern freuten sich, mehr bei den Eltern zu sein. Gleichaltrige haben in diesem Altern noch nicht die entscheidende Rolle, sondern die Sicherheit in den Bindungsbeziehungen und Anregungen zum Erkunden der nahen Umgebung. Sie reagieren deshalb eher darauf, wenn es den Eltern nicht gut geht, oder diese für das Kind durch Homeoffice-Verpflichtungen weniger Zeit haben oder dem Kind wenig Spielanregungen bieten können. Großeltern sind in diesem Alter sehr wichtig, hier erleben viele Kinder einen großen Verlust, den sie sich auch noch nicht erklären können. Man sollte deshalb versuchen, durch elternunterstützte Videotelefonie die Großeltern im Gedächtnis zu behalten. Und immer wieder Wege suchen, um Live-Kontakte zu ermöglichen.
Im September starten in den Kitas wieder die Eingewöhnungen. Aus Sicht vieler Erzieher:innen ist die Arbeit mit den Kleinkindern mit Nase-Mund-Schutz nicht möglich, da viele Kinder ängstlich bzw. abweisend darauf reagieren. Beeinflussen die Corona Hygienevorschriften das Bindungsverhalten der Kleinkinder?
Babys und Kleinkinder sind Meister:innen im Lesen von Gesichtern. Sie brauchen für ihre Entwicklung in den ersten Lebensjahren ständig den Blickkontakt und die Mimik von wichtigen Bezugspersonen, um sich und die Welt besser zu verstehen. Vor allem um sich in unklaren Situationen sicher zu fühlen, eigene Gefühle besser zu verstehen und beim Lernen neuer Fähigkeiten und der Sprache ist der Gesichtsausdruck der Bindungsperson entscheidend. Mund-Nase-Masken lassen die Mimik fast komplett verschwinden. Darauf reagieren die Kinder häufig irritiert, ängstlich oder aber auch mit Vermeidung und Rückzug. Kindergartenkinder können schon wesentlich besser mit Masken umgehen, da sie nun mehr auf das Spielen auch ohne Bindungsperson orientiert sind. In Krippen sollte deshalb mit transparentem Gesichtsschutz oder ohne Mund-Nasen-Schutz gearbeitet werden.
Insbesondere die Schulkinder haben durch die Schulschließungen die gewohnte Tages- und Lernstruktur verloren. Was können Eltern hier leisten und wieviel Tagesstruktur benötigt ein Kind eigentlich?
Grundsätzlich gilt, dass in Schulzeiten und einer Quarantänesituation (außer das Kind und die Familie sind ernsthaft krank) die Kinder eine feste Tagesstruktur erhalten sollten, das heißt vormittags im Zeitfenster zwischen 8 bis 13 Uhr mit entsprechenden Pausen und gegebenenfalls von der Familien festzulegenden Startzeiten die schulischen Aufgaben bearbeiten sollten. Die Schulen müssten nach den bisherigen Erfahrungen wesentlich mehr videogestützte Unterrichtszeiten anbieten, in der der Stoff erklärt und die Aufgaben für zu Hause vorgegeben werden. Ergänzt kann das durch Aufgaben und Kommunikation per Mail und Lernvideos auf entsprechenden Portalen. Es erscheint angesichts des Pandemieverlaufs weltweit sinnvoll, dass sich Lehrkräfte, Eltern und Kinder auf neue innerhalb der Schule oder der Kommune begrenzte Lockdowns und Quarantänesituationen vorbereiten. Arbeitgeber und Gesellschaft müssen Eltern flexibel unterstützen, und die Möglichkeit geben, zu Hause zu bleiben oder neue Formen der Notbetreuung zu überlegen. Einzelne Kinder, die zu Hause bleiben müssen, sollten sich per Video in den Unterricht zuschalten können, das heißt der Unterricht müsste dann durch externe Kameras und entsprechende Ausstattung live gestreamt werden. Neben der schulischen Struktur sollten auch die freien Zeiten grob geplant werden, Zeit zum Lesen oder analogen Spielen, Bewegung (evtl. mit Anleitungsvideos) und Spazierengehen, und eine gut überlegte, gegliederte Digitalzeit zum Chatten mit Freund:innen, zum Spielen mit PC und zum Fernsehen. Die schulische Digitalzeit soll dabei nicht angerechnet werden.
Kann es nicht auch positive Auswirkungen haben, wenn der Schuldruck und Freizeitstress für die Kinder wegfällt?
Positive Effekte wurden uns berichtet, z.B. dass die Kinder, die sich durch die schulischen Anforderungen oder Gleichaltrigenbeziehungen vor der Coronakrise gestresst fühlten, deutlich entspannter wurden, auch zu Hause weniger aggressiv waren. Auch Schlafdefizite von Kindern konnten aufgeholt werden. Das ist aber keine nachhaltige Lösung von Problemen. Für Kinder stellen Kita und Schule sinnvolle soziale und kognitive Anforderungen von außen dar, sie stellen sich dort ihren Entwicklungsaufgaben, und entwickeln ihre Kompetenz und eigenen Fähigkeiten. Diese Forderungen von außen können nicht dauerhaft glaubhaft von Eltern vermittelt und ersetzt werden. Hausaufgaben und Schulpflicht zum Beispiel gelten für alle Kinder, sie sind gesellschaftlich gesetzt. Darauf müssen sich Eltern auch berufen können. Das ist sehr konkret im Familienalltag wichtig, zum Beispiel wenn es um die Frage der Hausaufgaben geht. Kinder machen diese ja nicht für die Eltern.
Sehen Sie die Gefahr einer “verlorenen Generation”? Und was bedeutet das überhaupt?
Nein, das würde die Kinder einem zu negativen und resignativen Blick unterwerfen. Wir sollten auf die Stärken und Möglichkeiten schauen. Aber auch: Alle in der Gesellschaft müssen dieser einmaligen erstmaligem Krise Rechnung tragen und kürzertreten und kreativ Abstriche machen. Wenn ein Jahr weniger gelernt wird, geht die Welt nicht unter. Aber es gilt auch: Alle Kinder und Jugendlichen, die aufgrund fehlender familiärer Möglichkeiten abtauchen und abgehängt wurden, müssen wieder zurückgeholt werden. Das heißt, die Gesellschaft und Schule muss sich selbst verantwortlich fühlen, darf die schulischen Dinge und die Motivation nicht in die zu starke Verantwortung der Eltern, Kinder und Jugendlichen allein geben und Probleme der Krise „individualisieren“ im Sinn von: „Du musst dich halt anstrengen“. Nein, die Schule muss sich auch anstrengen. Bei längeren Homeschooling-Zeiten geht Motivation verloren, der Verlust der sozialen Kontakte führt zu innerer Leere, diffusen Verlustgefühlen und Stimmungsschwankungen. Auch hier gilt es durch Reden und Kontakt gegenzusteuern.
In der Corona-Krise wurde wieder deutlich, wie stark die schulische Entwicklung der Kinder vom Bildungsgrad und der Herkunft des Elternhauses abhängt. Was können Schulen und die Gesellschaft tun, um dem entgegenzuwirken?
Wie bereits dargestellt: Das ist kein familiäres Problem allein. Schulen und Lehrkräfte müssen. aktiv zugehende flexible Konzepte entwickeln – dafür gibt es bisher keine Stundendeputate. Jugendsozialarbeit an Schulen muss in die Familien gehen, in denen die Eltern überfordert sind. Evtl. müssen neue Patenschaftssysteme und gesellschaftliches Engagement mit Freiwilligen aufgebaut werden. Und ärmere Familien müssen mit entsprechenden digitalen Lernmitteln ausgestattet werden. Eltern sollten ermutigt werden, Problemanzeigen zu machen, ohne dass sie sich schämen müssen. Auch die Erziehungsberatungsstellen können hier wichtige Anlaufstellen sein, um herauszufinden, was die Familie und die Kinder benötigen.
Beim Homeschooling sind in den Familien viele Konflikte entstanden. Was ist wichtiger? Dass die Kinder alle Schulaufgaben erledigt haben oder ein harmonisches Familienleben?
Bereits bestehende Konflikte und Probleme des Kindes mit den schulischen Anforderungen und den Umständen wurden durch den Lockdown nun häufiger eine Angelegenheit und Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kind. Die Familie ist aber nicht die Schule und Eltern sind nicht der verlängerte Arm der Schule oder Ersatzlehrkräfte. Die tragfähige Beziehung zum Kind hat in der Familie Vorrang. Das heißt nicht automatisch, dass Probleme verdrängt werden dürfen, zum Beispiel wenn das Kind abtaucht, keine Schularbeiten erledigen will, sich gegen notwendige Tagesstrukturen wehrt. Es kommt dann aber besonders auf den ruhigen Tonfall im Gespräch mit dem Kind an. Eltern sollten das Kind beim Aufbau von Struktur einbeziehen („Was stellst du dir vor? Wann machst du DEINE Aufgaben?“), Ärger des Kindes nicht bewerten („Mach kein solches Theater“), sondern abwarten, bis er von selbst weniger wird, wenig vorschreiben oder sich in Machtkämpfe begeben, und auch nicht abdanken („das interessiert mich jetzt nicht mehr“) und das Kind sich selbst überlassen. Auch hier können Eltern Beratungshilfen in Anspruch nehmen, wenn sie sich hilflos fühlen.
Jugendlichen gehen viele Möglichkeiten verloren, sich zu entwickeln und lebendig zu fühlen, weil sie dafür den öffentlichen Raum – sogar in der Schule – brauchen.
Warum sind die Einschränkungen durch die Corona-Krise für Jugendliche besonders hart und wie reagieren sie darauf?
Bei Jugendlichen ist die Entwicklungsrichtung eher weg von den Eltern, auch wenn sie innerlich den Rahmen der Familie brauchen. Gleichaltrige sind aber nun die eigentliche Referenzgruppe – hier können sich Jugendliche ausprobieren. Jugendliche brauchen Rückzugsräume innerhalb der Familie, suchen aber auch außerhalb der Familie erwachsenenfreie Räume. Das alles ist durch die Coronakrise zum Teil massiv weggefallen. Jugendliche leiden deshalb enorm unter der Isolation von Freund:innen, viele Stunden, die sie sonst außerhalb der Familie verbracht hätten, sind sie nun zu Hause und damit viel stärker unter dem Blick der Eltern. Sie ziehen sich mangels Möglichkeiten außerhalb der Familie stundenlang in ihr Zimmer zurück, aber sie wollen nicht, dass ständig besorgte Nachfragen kommen. Die Jugendlichen nutzen natürlich verstärkt auch die digitalen Kontaktmöglichkeiten zu Gleichaltrigen, was zu häufigen Konflikten mit den Eltern führt. Und sie haben schlechte Laune, die es auszuhalten und von der es sich innerlich abzugrenzen gilt. Gleichzeitig helfen viele Jugendliche aber oft in der Familie mit, wenn es Eltern nicht so gut geht. Da sind sie als „young carers“ noch mehr in der Pflicht, zum Beispiel sich um die jüngeren Geschwister oder einen belasteten Elternteil zu kümmern. Grundsätzlich gehen Jugendlichen viele Möglichkeiten verloren, sich zu entwickeln und lebendig zu fühlen, weil sie dafür den öffentlichen Raum – sogar in der Schule – brauchen, die Familie ist eher eine Einengung. Jugendliche können sich auch selbst an unsere Beratungsstelle wenden, zum Beispiel jeden Mittwoch von 15:30 bis 17:00 ohne vorherige Anmeldung kommen.
Wie sollen Eltern reagieren, wenn sich ihr jugendliches Kind immer mehr zurückzieht? Wie kann der Kontakt dennoch gehalten werden?
Rückzug ist wie bereits beschrieben auch jugendtypisch. Stundenlanger Rückzug ist unproblematisch, wenn die Jugendliche dann im seltenen Kontakt zufrieden und entspannt wirkt. Wenn Eltern sich Sorgen machen sollten sie eher offen fragen, wie es dem Jugendlichen mit der Situation geht. Empfinden Jugendliche etwas als Problem, hilft auch eher konkretes Nachfragen nach den Gefühlen und den eigenen Einschätzungen. Auch bei Lösungsideen sollte eher nach den Ideen der Jugendlichen selbst gefragt werden. Oft hilft es schon, wenn schlechte Gefühle erzählt werden können und „lösungsfrei“ stehen bleiben dürfen.
Eltern sollten sich immer wieder bewusst machen, dass es jeden Tag aufs Neue um das Wertvollste im Leben geht: einen verantwortungsvollen Umgang mit den Kindern.
Wo ist die Grenze zwischen Depression und normalem “pubertärem Rückzugsverhalten”?
Grundsätzlich ist es angesichts der Coronabeschränkungen normal, dass die Stimmung stark schwankt und Jugendliche häufiger als sonst negative Gefühle zeigen. Dafür sollte man Verständnis aufbringen und diese „normalisieren“. Wenn aber der Kontakt von den Jugendlichen ganz vermieden wird, wenn Suizidgedanken geäußert werden oder Selbstverletzungen stattfinden, wenn gar keine gemeinsame Mahlzeit mehr möglich ist, wenn häufig aggressive Angriffe gegen die Eltern und Geschwister stattfinden, wenn keine Kontakte zu Gleichaltrigen mehr gepflegt werden, Schulaufgaben nicht mehr geleistet werden und Bewegung oder Freizeitaktivitäten nicht mehr stattfinden: Dann sollten Eltern überlegen, Beratungsangebote wahrzunehmen und dies den Jugendlichen auch mitteilen. Auch wenn vor Corona schon Probleme bestanden haben, können diese durch die Krise verstärkt werden.
Was möchten Sie den Eltern noch für den Umgang mit der Corona-Krise mitgeben?
Eltern sollten sich immer wieder bewusst machen, dass es sich immer noch um eine Ausnahmesituation handelt, und dass es jeden Tag aufs Neue um das Wertvollste im Leben geht: Sich um einen verantwortungsvollen Umgang mit den Kindern zu bemühen, und als verantwortliche Erwachsene das Beste draus zu machen. Was würden ihre Kinder in zehn Jahren auf folgende Fragen antworten? „Was fandest du damals in der Corona-Pandemie als besonders hilfreiches Verhalten von deiner Mama oder deinem Papa? Was hat diese Krise erträglich gemacht? Was war dabei in der Familie am Schönsten?
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