Leben

Kein Kinderspiel

Wie ich mit meinem Kind über den Nationalsozialismus sprechen kann
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von Franka Rössner

Wie gelingt eine frühe altersentsprechende Annäherung an die NS-Zeit ohne Kinder zu überwältigen, zu traumatisieren oder in eine langfristige Abwehrhaltung zu manövrieren? Was ist falsch und was ist zu viel?

Der unausweichlichen Präsenz des Holocaust kann sich in Deutschland niemand entziehen. Er wurde in Deutschland erdacht und akribisch geplant. Die zumeist deutschen Täter und Täterinnen überzogen ganz Europa aus nationalistischen, rassistischen und biologistischen Motiven mit Verfolgung und Vernichtung. Am Ende des Zweiten Weltkrieges beklagen wir mindestens 17 Millionen Menschen-Opfer einer menschenverachtenden Ideologie. Wir gedenken ihrer am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945. Jedes Jahr auch in Regensburg.

Kinder und junge Jugendliche sind selbstverständlich Teil unserer Erinnerungsgemeinschaft, vielleicht nicht unbedingt an offiziellen Gedenktagen. Sie begegnen aber an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Lebenswirklichkeiten uralt überlieferten (und neuen) antisemitischen Stereotypen, Rassismus und Behindertenfeindlichkeit. Zu glauben, dass erst im letzten Drittel der Schulzeit, da ist der Nationalsozialismus nämlich im Lehrplan angesiedelt, Adolf Hitler erkannt und thematisiert wird, ist gerade in unserem Land und in unserer mediendominierten Zeit utopisch.

Halbwahrheiten prägen sich früh ein

Dennoch neigen viele Eltern und Pädagog:innen Kindern gegenüber zu einer „Schonhaltung“ um sie von der Wucht des historischen Ereignisses abzuschirmen. So gut gemeint das sein mag, dieses Beschweigen im Elternhaus oder in der Grundschule führt oftmals dazu, dass die Auseinandersetzung dann eben (wie bei anderen Themen auch) im Abseits jedes gesteuerten und pädagogisch betreuten Lernprozesses stattfindet. Halbwahrheiten und manipulative Bilder sowie Geschichtskonstruktionen prägen sich früh ein und lassen sich in der Pubertät, in der Oberstufe oder durch einen Gedenkstättenbesuch oft nicht mehr erschüttern.

Wie aber gelingt eine frühe altersentsprechende Annäherung an die NS-Zeit ohne Kinder zu überwältigen, zu traumatisieren oder in eine langfristige Abwehrhaltung zu manövrieren? Was ist falsch und was ist zu viel?

Vom Holocaust erzählen – gute Materialien sind wichtig!

Simcha war ein jüdischer Junge, der in Warschau lebte. Er war ein ziemlicher Frechdachs, liebte Fußball und Schokolade. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen 1939 veränderte sich Simchas Leben schlagartig und er musste mit seiner Familie im Ghetto leben. Dort litten die Eingesperrten im Winter 1941/1942 unter großem Hunger. Simcha gelang es eines Nachts durch ein Loch in der Mauer zu steigen. Er wollte etwas zu Essen in das Ghetto schmuggeln. „Und Du wirst nicht glauben, womit er zurückkehrte!“ sagt der Opa im Film, der seinem Enkel Noam in einer Wohnung im heutigen Israel von seinem Freund Simcha erzählt (Quelle: Die Geschichte des Holocaust-Überlebenden Simcha Holzberg (youtube.com).

Der Film zeigt eine entspannte Dialogsituation, in der der Enkel seinem Großvater jede Frage stellen darf und er sie ihm geduldig beantwortet. Die historische Binnenerzählung wird durch einen farbigen Animationsfilm, deren Bilder weit weniger traumatisch sind als Foto-Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto, dargestellt. Historische Fotografien werden im Film zwar ebenfalls eingesetzt. Sie zeigen aber Kinder und Jugendliche in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: beim Schlittschuhlaufen und bei Spielen, die auch heutigen Kindern gut vertraut sind.

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Der Genozid – das massenhafte Ermorden von Menschen – wird im oben genannten Kurzfilm allerdings ausgespart. Das würde ich Eltern, die mit Kindern unter zwölf Jahren über den Nationalsozialismus sprechen, unbedingt raten. Die Verluste und das Leid, das Menschen zugefügt wurde, kann klar benannt werden. Es geht nicht um Beschönigen, Verharmlosen oder „Verkitschen“ (was bei Literatur/Filmen wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“ leicht passiert). Besuche von ehemaligen Konzentrationslagern, Verbrechensorten mit Gaskammern, sind aber definitiv nichts für Kinder.

Angebote für Kinder/Grundschüler:innen in Bayern

Mit einem vergleichbaren Ansatz wie die Internationale Schule für Holocaust-Studien an der Gedenkstätte Yad Vashem, die den Film über Simcha produziert hat, arbeitet auch das NS-Dokumentationszentrum in München. Für Einzelbesucher:innen bzw. Familien bietet es einen Mediaguide, der Kinder ab 10/11 Jahren durch die Dauerausstellung begleitet. Genauer gesagt ist es Ernst Grube, ein Münchner Junge, der von seinem Schicksal berichtet und anhand der großen Linien -   Ausgrenzung und Toleranz -  durch das Haus führt. Ernst Grube ist ebenfalls ein Überlebender. Bilder von Gewaltszenen werden im Rundgang für die Kinder ausgespart.

Elisabeth Schulte, die im NS-Dokuzentrum den Besucher:innenservice leitet und Thomas Rink, der mit anderen für das Rundgangs- und Seminarangebot verantwortlich ist (Schwerpunkt kulturelle Jugendbildung ab dem Grundschulalter) empfehlen Eltern oder Lehrenden, die einen Besuch am Königsplatz in München planen, sich gemeinsam mit den Kindern vorzubereiten: Wo geht man hin? Was ist dort zu sehen? Die Erwachsenen sollten sich die Frage stellen, was ihren Kindern (nicht alle Kinder sind gleich) zuzumuten ist und welche Themen besser ausgelassen werden.

Aus der zweitägigen Projektarbeit mit Grundschulklassen aus München berichtet der Historiker Rink, dass die Kinder, die er bislang betreut hat, sehr neugierig sind, sehr genau zuhören, sich sehr viel merken und unendlich viele Fragen zum Nationalsozialismus stellen.  Am ersten Tag lesen ehrenamtliche Vorleser:innen vom Verein Lesefüchse München e.V. das bebilderte Buch „Anne Frank“ von Josephine Poole in der Schule vor. Anhand des Schicksals von Anne Frank werden Themen wie Ausgrenzung/Toleranz und besonders Kinderrechte besprochen. Am zweiten Tag wird mit dem Fokus auf die Münchner Juden das Thema Ausgrenzung weiter vertieft. Was durften Kinder wie Anne Frank oder Ernst Grube im Nationalsozialismus nicht? Welche Rechte haben Kinder heute und in diesem Land (in anderen noch nicht)?

Damit wird klar, dass es bei der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nicht um eine vorgezogene Geschichtsstunde geht. Kinder (und vielleicht auch Erwachsene) merken sich nicht unbedingt Fakten und Jahreszahlen und können sie in diesem Alter noch gar nicht einordnen. Sie fragen sich aber z.B.: „Warum haben die Nazis eigentlich so riesige Bauwerke gebaut?“, „Wieso sieht man auf manchen Bildern tausende Menschen, die aufmarschieren und alle gleich aussehen?“, „Warum zeigen schon die kleinen Kinder den Hitler-Gruß?“, „Was passierte eigentlich, wenn man nicht mitmachen wollte?“

Souveränität der Erwachsenen – eigene Haltung und Sorgfalt

Eigentlich beginnt sowieso alles bei uns Erwachsenen. Können Sie sich denn erinnern, wann Sie zum ersten Mal Kontakt mit dem Thema Nationalsozialismus gehabt haben? War es über die Schule oder durch das Elternhaus? Wie geht denn die Familienerzählung über die Zeit von 1933-1945? Je nachdem auf welcher Seite die Vorfahren standen, wird die Geschichte oder gar Legende ganz unterschiedlich sein. Je nachdem, ob die Haltung der damals handelnden Familienmitglieder bearbeitet oder überhaupt kritisch besprochen werden durfte, nehmen wir nachfolgenden Generationen die Auseinandersetzung als offen wahr. Oder wir bemerken das tiefe schwarze Loch. Reagieren mit Abwehr, fühlen uns persönlich angegriffen und beschuldigt.

Dr. Kathrin Plank vom Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Diversitätsforschung und Bildungsräume der Mittleren Kindheit an der Uni Passau geht vielen dieser Fragen mit Lehramtsstudierenden nach. Sie beschäftigt sich im Bereich Holocaust Education in der Lehrer:innenbildung auch mit den Tätern und Täterinnen im NS. Während der Exkursionen an den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim bei Linz (Tötungsanstalt der „Euthanasie“-Mordaktion) fällt ihr regelmäßig auf, dass ein Narrativ bei vielen Lehramtsanwärter:innen stark dominiert: Angst. Menschen, die im Nationalsozialismus andere Menschen verfolgten, sie entrechteten, verfolgten und ermordeten, taten dies, weil sie es angeblich mussten.

Ein Blick zurück in die Vergangenheit ist idealerweise ein gemeinsamer.

Um dieses faktisch falsche Geschichtsbild zu bearbeiten, ist es nötig, zu verstehen, dass Menschen damals aus unterschiedlichen Motiven zu Tätern wurden, sei es z.B. aus Überzeugung oder Profitdenken. Das leuchtet eigentlich ein, dann liegt aber die Verantwortung tatsächlich (auch) bei der Einzelperson, was so manche Vorstellung erschüttert.
Gerade in der heutigen Zeit, in der es auf deutschen Straßen zu antisemitisch motivierten Hamas-Sympathie-Kundgebungen kommt, werden zuverlässig Forderungen laut, Kinder und Jugendliche noch mehr/besser über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aufzuklären. Meiner Meinung nach kann und muss diese Beschäftigung früher einsetzen und andere Zugangschancen eröffnen als bislang. Auch wenn einige Eltern und Lehrkräfte erstmal davon überzeugt werden müssen, bzw. eine Idee davon bekommen sollten, wie das souverän und verantwortungsvoll geschehen kann.

Ein Blick zurück in die Vergangenheit ist idealerweise ein gemeinsamer. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dazu motivieren, zusammen mit den Kindern die Nazi-Spuren zu suchen. Warum nicht gleich in Regensburg damit anfangen.

Historische Fotos: Stadt Regensburg / Bildredaktion